Dramen

1993 – Annas Zukunft. Ein dramatisches Menetekel in drei Akten

1995 – Supernova. Mirakel- und Passionsspiel in tragikomischer Form

1995 – Perlenlied. Drama einer Selbstwerdung in fünf Akten

1995 – Das Unwetter. Eine erschütternde Komödie nach der dramatischen Skizze „An der großen Straße“ von Anton Cechov

1996 – Aschenglut. Dramatische Hommage an Paul Celan

1997 – Narrenschiff. Ein deutsches Wiedervereinigungsdrama

1998 – Mysterium Bethlehem. Stuttgarter Weihnachtsspiel

1998 – Dorothea. Ein platonischer Dialog über das Leiden

1999 – Buch Genesis. Von der Erschaffung der Welt bis zur Vertreibung der Menschen aus dem Paradies. Dramatische Dichtung

2004 – Orfeo Remake. Eine Dramatine

2020 – Agathon. Dialog über das Gute

2020 – Die Schüler des Parmenides. Dialog über das Sein

2021 – Isaaks Opfer. Ein dramatischer Dialog

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Die Ratte in der Bildsäule, ein Dramolett

An einem schönen Sommertag irgendwo im herrlichen Alpenvorland wurde der große Religionsphilosoph Karl Rahner einmal von einem Teilnehmer seines Workshops in einer Pause, als sie gerade zufällig unter einer duftenden Sommerlinde beieinander standen, gefragt, was man denn wohl am meisten am Glauben und an der Religion fürchten müsse. Rahner, ein leicht irritierbarer Mensch, den diese Frage, ähnlich zuvor nie gehört, ziemlich überraschte, besann sich einige Augenblicke, wobei sich seine Augenbrauen in dunklem Ernst zusammenzogen, und antwortete dann mit sich aufhellenden Gesichtszügen kurz und knapp: „Die Ratte in der Bildsäule“. Wie man sich denken kann, staunte der junge Frager nicht schlecht und bekannte, dass er mit diesem Vergleich nichts anzufangen wisse, weshalb er den großen Theologen bat, ihn doch zu erläutern. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und hob mit leicht jubelnder Stimme an:

„Im fernen China pflegte man aus Gründen, die wir hier im Westen schwer nachvollziehen können, an vielen Plätzen dem so genannten „Geist des Ortes“ Bildsäulen zu errichten. Diese hölzernen Statuen sind inwendig hohl und von außen bemalt, Totempfählen ähnlich, in deren göttlicher Macht sich eine Gemeinschaft von Urzeit her unerschütterlich geeint weiß. In eben eine solche hatte sich eine gierige Ratte hineingearbeitet und schon einigen Schaden angerichtet. Da man nicht wusste, wie man sie vertreiben könnte, hatte sich Hilflosigkeit unter den Pilgern breit gemacht. Feuer zu gebrauchen, traute man sich nicht, aus Furcht, dass das Holz der Statue angegriffen würde; die Bildsäule ins Wasser zu setzen, fürchtete man sich aber keineswegs weniger, da die Farben darunter leiden müssten. Und so verharrte man in Untätigkeit und ließ die Ratte gewähren.“

„Wie“, antwortete der Student, „man unternahm nichts?“

„Nein, nichts“, sagte Rahner.

„Dann war also die Ehrerbietung“, entgegnete der junge Mensch, „vor einem Stück Holz größer als die Vernunft und lähmte den Willen, das Übel aus der Welt zu schaffen?“

„So ist es“, bestätigte der weise alte Mann.

„Was aber hat das alles mit dem Glauben und mit der Religion zu tun?“

„Nun, mein Freund“, fuhr Rahner fort, „mir scheint, dass Sie als höheres Semester schon selbst in der Lage sein müssten, die Verbindung zu ziehen.“

„Sie meinen, ich wäre dazu in der Lage?“

„Warum nicht? Es ist doch ein Gleichnis. Und wo ein Gleichnis ist, befindet sich ein Gleichheitszeichen mit einem Term links und einem Term rechts vom Gleichheitszeichen. Da Sie den einen Term schon kennen, sollte Ihnen die Übertragung nicht schwerfallen. Ich will doch nicht selbst“, betonte Rahner, „noch zur Bildsäule werden!“, wobei er herzlich auflachte.

„Sie haben recht“, Professor, „es liegt eigentlich auf der Hand. Die Bildsäule steht zweifellos für die Religion bzw. das, woran die Menschen glauben, ihr Heiliges, Göttliches. Rudolf Otto hätte wohl vom Numinosen, Paul Tillich vom Unbedingten, das uns angeht, gesprochen!“

„Sie haben Ihre Lektion gelernt!“, freute sich Rahner über den Eifer seines Schülers.

„Aber die Ratte? Mit der tue ich mir, offen gestanden, schwer.“

„So? Das sollte mich wundern, wenn die kritische Jugend hier kein faules Dänemark witterte!“

„Ich wage es ja kaum und fürchte, dass Sie mich der Respektlosigkeit -“

„Nur zu, geben Sie der Wahrheit die Ehre und beugen Sie sich nicht zu rasch vor der Autorität. Autorität und Tradition sind primär Manifestationen der Macht, die im guten Falle im Dienst der Wahrheit stehen, aber vom Menschen allzu leicht in den Dienst seiner eigenen Interessen genommen werden.“

„Dann wäre die Ratte genau jener, der als Hüter des Heiligtums eingesetzt wurde?“

„Der falsche Hüter“, antwortete Rahner.

„Der die Dinge verdreht und aus seiner Machtstellung einen Wahrheitsanspruch ableitet, statt die Wahrheit zur Grundlage seiner Macht zu machen?“, fragte der Student.

„Präzise“, sagte Rahner, „oder weniger formal gesprochen, der Rechthaber, der Besserwisser, der Diktator des Geistes.“

„Der meint, weil er die Macht hat, seine Behauptungen nicht begründen zu müssen, sondern diktieren zu dürfen?“

„Eben der.“

„Der sozusagen mit dem Hammer argumentiert?“, gab der Student zurück.

„Und auch bald mit der List, der Finte, der Täuschung, vor allem, mein Freund, mit dem Schlimmsten, mit der Selbsttäuschung nämlich!“

„Wie das?“, fragte der Student, „weiß er denn nicht ganz genau, was er tut?“

„O gewiss“, entgegnete Rahner, „aber genau das will er nicht wissen. Der Wille kann stärker sein als das Bewusstsein. Lesen Sie die Anekdote von Kant und seinem Diener Lampe: Man kann etwas, das man weiß, vergessen wollen.“

„Was bedeuten würde, dass man an ihm, ohne als Beleidiger dazustehen, keine Kritik üben kann.“

„Richtig. Die Psychologie der „heiligen Macht“ ist verwinkelt und verwickelt. Aristoteles rät da übrigens zum Schweigen, wie ja auch unser Herr, wie Sie wissen, vor Pilates keine Anstalten macht, sich zu verteidigen.“

„Ist die Verbindung von Macht und Heiligkeit nicht ein Widerspruch in sich selbst?“

„In dieser Welt ist sie wohl unumgänglich. Jesus jedenfalls, der auf die volle Heiligkeit setzte, hat auf alle Macht verzichtet.“

„In seiner Ohnmacht wurde er zum effektivsten Machtinstrument Gottes, nicht wahr?“

„Klingt paradox, aber entwaffnend“, sagte Rahner, wobei er wieder herzlich auflachte.

„Müssen wir daraus nicht schließen“, sprach der junge Mann, eine Wendung nehmend, „dass die umso größere Annäherung an das Heiligtum den umso größeren Machtverzicht verlangt.“

„Ich verstehe“, entgegnete Rahner, „Sie spielen wieder auf die Ratte an, die sich ja im Inneren des Heiligtums befindet.“

„Je weiter innen, desto größer die Verwüstung“, befand der Student.

„Allerdings“, sagte Rahner, „die Kirche, die am Kopf stinkt, ist am ganzen Körper krank. Wie Sie wissen, war dies ein Hauptgrund für die Entfesselung der reformatorischen Revolution.“

„Was aber tun?“, fragte der junge Mann mit zitternder Stimme, „es kann doch nicht genügen, die Hände in den Schoß zu legen. Wenn nicht mit Feuer oder Wasser, dann muss man ein anderes Mittel finden, um sie zu vertreiben.“

„Woran denken Sie“, fragte Rahner.

„An Kritik, Empörung, Bewusstmachung, Argumentation natürlich, wir wollen doch nicht unsererseits Gewalt und Täuschung anwenden“, meinte der junge Mensch.

„Wird sich ein Machthaber, gar noch gehüllt in heilige Gewänder, sich davon beeindrucken lassen?“, entgegnete Rahner.

„Kaum“, stimmte der Student etwas bedrückt zu, „Was aber bleibt dann übrig?“

„Wir müssten aufhören, an die Ratte zu glauben, das allein gäbe ihr den Todesstoß“, gab Rahner trocken zurück.

(21.8.2020)

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